Erscheinung
Er
hatte sich immer auf sie verlassen können. Egal in welcher Situation
er sich befunden hatte; er musste sich nur nach ihr umsehen und schon
entdeckte er sie in einer Ecke. Meist stand sie sogar einfach nur
hinter ihm. Er fand sie schön. Sie war sehr zierlich und hatte lange
glatte Haare. Wenn sie mit ihm sprach, leuchteten ihre Augen in solch
einer Intensität, dass es manchmal wirkte, als würde sie jeden
Moment in Tränen ausbrechen. Es spielte absolut keine Rolle, wie
verzwickt seine Lage war, sie sagte immer das Richtige. Er sprach
gern mit ihr, sie hörte ihm immer zu und nickte bedächtig, bevor
sie antwortete.
Aber
die Menschen um ihn herum verstanden nicht was sie sagte, verstanden
nicht weshalb er mit ihr sprach. Sie hatte die Vermutung geäußert,
dass die Menschen sie nicht verstehen wollten, weil sie Angst hatten
für verrückt erklärt zu werden. Und dabei hatte sie wieder
bedächtig genickt und ihre Augen hatten geleuchtet.
„Bin
ich denn verrückt, weil ich mit dir spreche?“, hatte er gefragt
und es war das erste Mal, dass sie ihm nicht sofort eine Antwort gab.
„Nein.“,
hatte sie schließlich gehaucht. „Das bist du nicht.“ Und diesmal
wie in Zeitlupe den Kopf geschüttelt.
Doch
die Zweifler in seinem Umfeld wurden immer zahlreicher und ihre
Schreie immer lauter. Man empfahl ihm einen Psychiater und als er ihr
die Visitenkarte des Arztes zeigte, erbleichte sie für einen Moment
und dann brach sie in schallendes Gelächter aus. Zum ersten Mal,
seit er sie kannte.
Sie
gingen gemeinsam zu dem vereinbarten Termin und als sie den
Behandlungsraum betraten, legte sie sich demonstrativ auf die
obligatorische Couch. Der Psychiater war in jeder Hinsicht ein
korrekter Mensch. Er begann das Gespräch auf eine professionelle,
lockere Art und sprach zunächst nur über unverfängliche Dinge. Sie
lag da, beobachtete ihn und lächelte geheimnisvoll.
Als
er schließlich nach ihr gefragt wurde, begann sie zu sprechen:
„Er
glaubt dir nicht!“
Ruckartig
wandte er den Kopf zu ihr und fixierte ihre funkelnden Augen. Langsam
setzte sie sich auf und starrte dabei unentwegt zurück.
„Weshalb?
Ich habe ihm doch noch gar nichts über dich erzählt.“
„Aber
er sieht mich nicht. Will mich nicht sehen.“, lautete ihre Antwort.
„Woher
willst du das wissen?“
„Er
blickt mich nicht an und während wir sprechen, macht er sich die
ganze zeit Notizen, als seist du irgendein Individuum, dessen
Verhalten ihm unbekannt und eine Sensation ist.“
Er
blickte auf und tatsächlich war der Psychiater gerade dabei, seine
Unterschrift unter ein Rezept zu setzen. Danach sah er ihn an,
lächelte professionell und reichte ihm das Papier über den massiven
Schreibtisch.
„Bitte
holen Sie sich das Medikament noch heute ab. Es wird ihnen gut tun
und helfen!“
Verwundert
nahm er es entgegen und machte sich auf den Weg.
„Tu
es nicht, ich bitte dich!“, sagte sie zu ihm.
„Weshalb?
Er sagte, es würde mir gut tun!“
Daraufhin
schwieg sie und zog sich zurück.
Abends
saß er auf der Bettkante und drehte die kleine Tablette zwischen
seinen Fingern. Sie stand in der Ecke und starrte ihn an. Schnell
schluckte er das Medikament herunter und trank einen Schluck Wasser.
„Komm
zu mir ins Bett.“, bat er.
Sie
nickte und eine einzelne Träne rann ihre Wange hinab. Dann schmiegte
sie sich an ihn und beruhigt schlief er ein.
Am
nächsten Morgen wachte er auf und fühlte sich anders als sonst. Er
war nun wie die Anderen geworden, denn egal wie stark er sich
konzentrierte, er sah sie nicht mehr. Als er sie rufen wollte, ging
ihm auf, dass er nicht einmal ihren Namen wusste. All die Jahre hatte
er nie danach gefragt. Nun fühlte er sich orientierungslos, doch die
Tabletten halfen ihm, sich daran zu gewöhnen. Und plötzlich war er
wie alle Anderen. Allein.
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