Kapitel 2

Sie ging geradeaus weiter und war mit zwei Schritten aus dem kleinen Flur heraus, während Jake nach rechts in die Küche abbog.
Jake war seit jeher keiner der Menschen gewesen, die penibel Ordnung hielten. Gerade jetzt fühlte sie sich in dem kleinen, aber geräumigen Raum wohl, wähnte sie sich doch durch die umher liegenden Blätter und anderen Sachen sofort an längst vergangene Tage erinnert. Jake nutzte diesen Raum zum Arbeiten und als Wohnzimmer. Sie hörte, wie er in der Küche einen Topf auf den Herd setzte und mit Löffeln und Tassen klapperte.
In der Wohnung nebenan hörte jemand Musik, sonst war es still. Sie ließ sich auf das Sofa fallen, auf dem Jake sonst schlief. Sein Kissen lag noch auf dem Laken und die Decke war zerknautscht auf den Boden gefallen. Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen. Über das Regal, in dem seine sämtlichen Bücher standen. Ihr Blick wanderte weiter und blieb an einem Aquarell hängen, das Jakes Mutter vor Jahren gemalt hatte. Es zeigte einen Sonnenuntergang in der Afrikanischen Savanne. Der komplette Raum spiegelte Jakes Liebe zu dem fernen Kontinent wider. Die Wände waren in warmen Braun- und Rottönen gestrichen, Und als es sich angeboten hatte, das Holz im Zimmer zu streichen, hatte er alles in dunkle Mahagoni-töne getaucht. Sie selbst hatte ihm zum Geburtstag einen Terrakotta-farbenen Bezug für sein Sofa genäht. Als sie gedankenverloren über den weichen Stoff strich, fiel ihr auf, dass die Tür des beinahe antik wirkenden Kleiderschrankes offen stand. Ein farbiges Stück Stoff hing heraus.
Als sie aufstehen wollte, um die Tür zu schließen, kam Jake mit zwei dampfenden Tassen ins Zimmer. Er stellte die Tassen auf den Tisch neben dem Sofa. Als er zu ihr aufsah, wirkten seine Augen unheimlich dunkel. Eine Sekunde später blinzelte er und seine Augen wirkten wie immer; vertraut und verständnisvoll. Er griff nach seiner Decke, faltete sie zusammen und verstaute sie im Kasten unter dem Sofa. Das Kissen ließ er liegen. Sie selbst stand währenddessen immer noch verloren mitten im Raum. Jake musste geahnt haben, was sie vorhatte, denn er ging um den Tisch herum und drückte sie im Vorübergehen sanft in Richtung Sofa, schloss die Schranktür und setzte sich zu ihr.
Die Tasse in ihrer Hand war heiß und es duftete süß nach Schokolade. Sie wusste nicht genau, wie Jake das Getränk kochte, aber es schmeckte unverwechselbar gut. Ihre Mutter hatte selbst...
Erschrocken brach sie den Gedanken ab. Sie hatte keine Eltern...! Dieser Satz hallte, ohne, dass sie den Sinn begreifen konnte, in der Leere ihres Kopfes wieder. Müde lehnte sie ihren Kopf an Jakes´ Schulter. Der einzige Halt, der ihr gerade geblieben war!

Als Jake erwachte, war es fünf vor 3 Uhr. Nachts.
Er spürte, dass seine Muskeln verspannt waren und schmerzten. Als er sich aufrichtete, sah er, dass Cat zur Seite gekippt war und schlief. Einige Haarsträhnen waren ihr ins Gesicht gefallen. Er strich sie zur Seite und sah, wie ihre Augen unter den Lidern sich schnell hin und her bewegten. Zwei Rinnsale aus weißen, feinen Kristallen zogen sich ihre Wangen herunter. Sie zeugten von den Tränen, die, nachdem sie alles erzählt hatte, die Wangen herabgelaufen waren. Sie hatte Albträume... Kein Wunder!
Er seufzte, nahm seine Decke und legte sie ihr über die Beine. Danach rutschte er auf den vorderen Rand des Sofas und schaltete seinen Laptop an. Seit Cat ihm den Grund für ihre Aufgelöstheit erzählt hatte, hatten sich eisige Krallen um sein Herz gelegt, die gleichzeitig danach schrien, irgendetwas zu tun, um ihr zu helfen. Bloß was?!
Er öffnete seinen Browser und setzte den Cursor in die Zeile der Suchmaschine. Seine Finger schwebten über der Tastatur, als er sich selbst fragte, wonach er überhaupt suchen sollte... Er konnte ja wohl kaum eine Annonce ins Internet stellen: Suche Eltern, die ihre Tochter bei Familie Mash abgegeben haben! Bitte unter folgender Nummer melden:… - Wie schwachsinnig, von ihm zu glauben, er könne Cats Probleme mit einer halben Stunde surfen beheben! Er seufzte. Sein Nacken schmerzte und er versuchte angestrengt, sich etwas einfallen zu lassen. Doch wie immer, wenn man krampfhaft nach einer Idee sucht, kommen einem die absurdesten Einfälle in den Kopf.
Lustlos durchstöberte er seine Bilder, in der Hoffnung, irgendetwas zu finden, dass ihm helfen würde... Er schaute in einem Ordner gerade Bilder von ihrem Kindergeburtstag an. Lächelnd erinnerte er sich an die Spiele, die sie an diesem Tag gespielt hatten. Plötzlich hörte er den Vibrationsalarm ihres Handys. Er schaute sich um. Gerade, als er das leuchtende Display entdeckt hatte, begann ihr Lieblingslied zu spielen. „Komm, lass dich von mir entführen...“, weiter kam Farin Urlaub nicht, denn Jake hatte das Telefon erreicht und im Eifer des Gefechts einfach das Gespräch angenommen. Womöglich ein Fehler! Zu spät las er den Namen des Anrufers, denn im nächsten Moment ertönte schon eine Stimme.
   „Hey!“
Es war keine fröhliche Begrüßung, sondern eine sonderbare Mischung aus melancholischer Ruhe und Mitleid. Er kannte diese Art der Begrüßung nur zu gut, ebenso, wie er auch wusste, dass Cat diese Art mindestens so sehr hasste wie er selbst. Jake holte Luft, um zu antworten, doch Sam kam ihm zuvor.
   „Sorry, ich weiß, wie spät es ist, aber ich weiß auch, wie beschissen diese ganze Aktion von mir war! Du musst mich doch verstehen. Ich konnte einfach nicht mehr. Die ganze Sache hat mich einfach so fertig gemacht. Es war dumm, so aus dem Affekt heraus zu handeln und als ich jetzt drüber nachgedacht hab, hab ich gemerkt, dass du mir einfach zu wichtig bist, um einfach so Schluss zu machen. Ich brauch dich!“
   „Entschuldige, Sam, hier ist Jake. Cat schläft gerade. Ich glaube auch, dass es besser ist, wenn du sie erst mal für eine Weile in Ruhe lässt.“
   „Oh...“, Sams Stimme war merklich kühler geworden. „Was machst du denn mit Cats Handy?“
  „Wie gesagt, sie schläft. Und ihr geht es nicht sehr gut. Wenn du also aufhören würdest, sie mitten in der Nacht anzurufen, wäre ich dir schon sehr dankbar!“
Für einen Moment war Stille am anderen Ende, dann seufzte Sam laut hörbar.
   „Na schön, dann versuch ich es später nochmal... Ciao.“
Jake starrte für einen Moment auf das Display und wusste nicht, was er davon halten sollte. Da fiel ihm die Uhrzeit ins Auge. Hatte er tatsächlich 3 Stunden vor dem Laptop gesessen? Es war tatsächlich kurz nach 6 Uhr. Er seufzte, richtete sich auf und ging wieder zum Sofa hinüber, auf dem Cat immer noch schlief. Jedoch schien ihr Albtraum zu Ende zu sein, denn sie lag ruhig da. Wieder dem Laptop zugewandt, klickte er sich weiter durch die Galerie. Einige Zeit später – er wusste nicht genau, wie lange – spürte er Cats Blick in seinem Rücken.
   „Was machst du da?“, wollte sie wissen.
   „Ich weiß es selbst nicht so genau... ich dachte, ich würde irgendetwas finden...“
   „Was denn?“
   „Etwas, das dir helfen könnte... ich weiß es auch nicht...“
   „Aha. Wie spät ist es?“
   „Kurz nach sechs. Hast du Hunger?“
   „Naja...“
   „Also mach ich uns was. Die Bäckerei wird gerade öffnen. Du kannst dich ja nochmal hinlegen, ich werde in 10 Minuten wieder da sein.“
   „Okay.“
Sie ließ sich wieder auf das Kissen fallen und zog die Beine an den Körper. Jake machte sich nicht die Mühe, die Galerie zu schließen, sondern klappte den Laptop einfach zu, nahm sein Portmonee und den Wohnungsschlüssel und ging. Als er wiederkam, war Cat wieder eingeschlafen. Er schlich sich in die Küche und kochte noch einmal Kakao.
Nach einer Viertelstunde hatte er ein Tablett mit zwei Tassen Kakao, frischen Brötchen und Aufschnitt zurecht gemacht, das er nun möglichst leise ins Wohnzimmer balancierte. Zu allem Überfluss, war der kleine Tisch im Wohnzimmer voller Blätter, sodass er das Tablett klirrend auf dem Boden absetzten musste, um Platz für das Frühstück zu schaffen. Dabei wachte Cat auf.
Gute fünf Minuten später saßen sie, einander gegenüber am Tisch und nippten an ihren Tassen. Jake wollte ein möglichst unbefangenes Gespräch anfangen, doch seine Gedanken kehrten immer wieder zu der schrecklichen Wahrheit zurück, die Cat anscheinend noch bis in ihre Träume hinein verfolgt hatte. Sie schien es zu merken und fragte schließlich:
   „Gibt es irgendetwas Neues?“
   „Du hattest heute Nacht einen sehr interessanten Anrufer!“
DAS war der falsche Satz gewesen... Cat verschluckte sich an ihrem Brötchen und fing an zu husten. Er bereute schon, kurz bevor er den Satz überhaupt zu Ende gesprochen hatte, dass er dieses Thema angeschnitten hatte. Wie konnte er nur so dumm sein!
   „Wie bitte?“, fragte sie, als sie ein paar Mal tief Luft geholt hatte und schaute ihn durchdringend an.
   „Sam hat angerufen.“
Diese 3 Worte schafften es, sie noch bleicher werden zu lassen. Obwohl sie von der Nacht dunkle Ringe unter den Augen hatte, schien nun auch noch das letzte Bisschen Farbe aus ihren Wangen zu weichen. Jake hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt.
  „Ich kann mir vorstellen, was er von mir wollte...“, murmelte Cat scheinbar nach einer Unendlichkeit. Sie hatte den Blick gesenkt und rührte lustlos in ihrer Tasse herum.
  „Es tut mir leid, ich wollte nicht, dass er dich weckt und darum hab ich das Gespräch schnell angenommen. Dummerweise, ohne darauf zu achten, wer dich anruft...“
  „Jake, es ist okay... Er hat jetzt schon das dritte Mal versucht mich anzurufen. Wenn er das nächste Mal anruft, kannst du ihn ruhig wegdrücken. Ich will endlich damit abschließen...“ Sie wirkte bedrückt. Schweigend saßen sie am Tisch. Sie hatte aufgehört zu essen und als sie so zusammengesunken auf dem Sofa saß, meinte Jake zu sehen, wie mager sie geworden war. Durch das blasse Gesicht und den leeren Blick, wirkte sie so fragil, dass Jake beinahe Angst hatte, sie könne bei der kleinsten Erschütterung zerbrechen.
Nach einer Weile wagte er schließlich zu fragen: „Was willst du jetzt eigentlich machen?“
  „Wenn ich das wüsste, wäre ich um einiges weiter...! Ich fühl mich nicht wohl dabei, aber ich will wissen, warum das alles so passiert ist! Das ist doch nicht normal! Wieso werde ich von Menschen erzogen, die nicht mal wirklich wissen, wer ich bin? Und das Beste dabei ist: Warum sagen sie mir das ausgerechnet jetzt? Und vor allem: warum so??? Das kann doch nicht wahr sein! Sie hätten können einfach schweigen und mein Leben wäre normal weiter gegangen... Ich hatte doch keine Ahnung!...“
Während der letzten Sätze war sie aufgesprungen und im Zimmer hin und her getigert. Nun holte sie zitternd Luft und sah Jake ins Gesicht. Sie hatte recht, dachte er, aber was wollten sie machen? Dieser Gedanke erinnerte ihn an seine mehr oder weniger sinnvolle Beschäftigung diese Nacht. Es brachte nichts, sich den Kopf weiter nach Möglichkeiten zu zermartern. Aber was, überlegte er plötzlich, wenn sie wirklich etwas herausfanden? Der Absurdität des „Zufalls der Umstände“ zufolge, musste die Wahrheit noch unglaublicher ausfallen. Konnte Cat das verkraften?!
Er holte Luft und wollte gerade ansetzen zu antworten, als es klingelte. Jake stand auf, um zu der Sprechanlage zu gehen, während Cat sich müde auf das Sofa fallen ließ. Er nahm den Hörer ab.
   „Hallo?“
   „Mach die Tür auf Jake, oder wir holen die Polizei! Wir wissen, dass Cassandra bei dir ist!“
Es war Cats „Vater“. Jake zögerte.
   „Jetzt mach endlich die Tür auf!“
Nach einer Sekunde weiteren Zögerns drückte er den Schalter und die Haustür öffnete sich. Aus dem Wohnzimmer erklang Cats Stimme:
   „Wer war das denn?“
  „Mach dir keine Sorgen, ich regle das!“, meinte er nur nervös und ging, ohne weitere Fragen abzuwarten hinaus ins Treppenhaus, um seinen Besucher abzufangen. Er zog die Wohnungstür hinter sich ins Schloss. Unter sich hörte er Schritte. Schweigend und sich um ein gleichgültiges Gesicht bemühend lauschte Jake den hallenden Tritten, die sich mit den Geräuschen aus den neben liegenden Wohnungen vermischten.
Jake dachte an den Wohnungsschlüssel in seiner Hosentasche und daran, dass Cats „Vater“ diesen auf keinen Fall in die Hände bekommen dürfte. Unwillkürlich steckte er die Hände in die Taschen. Er hoffte inständig, dass Cat so klug sein würde, nicht die Tür zu öffnen, sollte dieses Gespräch länger dauern, als erwartet, als er auch schon die schwarze Krempe des ihm allzu bekannten Hutes auf der Treppe entdeckte. Erstaunt stellte er fest, dass William Mash in Begleitung seiner Frau war. Sie folgte ihm sichtlich beunruhigt in wenigen Schritten Abstand. Als Mr. Mash nach oben blickte und Jake dort seelenruhig stehen sah, verdüsterte sich seine so schon finstere Miene noch mehr. Die beiden erreichten den Treppenabsatz und Jake spürte, wie sich seine Muskeln anspannten. Wäre die Situation nicht so heikel, hätte es fast amüsant aussehen können, denn er stellte fest, dass auch Mr. Mash mit seinem Kiefer malmte. Caroline, Cats Mutter schnappte nach Luft. Nach einer schieren Unendlichkeit setzte William an:
   „Na schön. Wo ist sie?“
Auf einmal spürte Jake nur noch Verachtung für den alternden Mann, der da vor ihm stand, wie der klägliche Versuch eines Lemurs, sich auf die Größe eines Gorillas aufzuplustern. Er wusste zwar nicht, woher ihm gerade dieser Gedanke gekommen war, aber er musste darüber schmunzeln, was zur Folge hatte, dass sein Gegenüber noch grimmiger aussah. Dennoch musste er all seinen Mut zusammennehmen, um das zu sagen, was er dachte...

Cat lauschte. Die Tür fiel ins Schloss und sie war wieder allein in der Wohnung. Doch Jake schien vor der Wohnung stehen zu bleiben. Als sie nach einiger Zeit immer noch nichts hörte, schlich sie sich in Socken in den Flur hinaus.
Sie schaute durch den Spion nach draußen, konnte aber nichts weiter als Jakes dunklen, zerzausten Haarschopf sehen.
Wieso steht er direkt vor der Tür?
Sie legte das Ohr an die Tür, um irgendwelche Anhaltspunkte zu bekommen, was da los war, als sie die Stimme hörte, die sie erstarren ließ.
   „Na schön. Wo ist sie?“
Entsetzt fuhr sie zurück. Was will er noch hier?! Hat er nicht schon genug angerichtet? Plötzlich hörte sie, wie Jake anfing zu sprechen. Ruhig und mit einer eisigen Gelassenheit, die sie erschaudern ließ. Es war nicht klug, sich mit William Mash anzulegen, besonders dann nicht, wenn er wütend war, aber Jakes Stimme war so fest, dass scheinbar auch ihrem „Vater“ der Atem stockte. Und auf einmal begriff sie. Jake wollte diesem Mann nicht nur kräftig die Meinung geigen, sondern vor allem ihr helfen!
Sie wandte sich um und lief, so schnell sie konnte ins Wohnzimmer, um alle Spuren zu beseitigen, die darauf hindeuten könnten, dass sie die Nacht hier verbracht hatte. Jetzt zahlte sich das harte Training aus, dass Jake und sie immer zusammen im angrenzenden Park durchgezogen hatten. Beinahe lautlos, packte sie das Bettzeug in die Schublade und räumte das Frühstück in die Küche. Dann zückte sie ihr Handy und wählte die Funktion, welche Jake programmiert hatte: eine Nachricht, welche sich nach dem Öffnen nach einer Minute löscht, ohne Spuren zu hinterlassen. Hastig tippte sie eine Nachricht ein und sendete sie an sein Handy:
          Bin im Park. Eichenstamm. Höhle.
    Warte dort auf dich.
    C
Dann schnappte sie sich Jakes Tarnjacke und kletterte aus dem Fenster, von dem aus man zur Feuerleiter an der Hinterseite des Hauses gelangte. Bevor sie sich auf das Raster fallen ließ, verriegelte sie durch einen versteckten Mechanismus das Fenster von außen und eilte lautlos über die Treppe nach unten. Vor dem letzten Treppenabschnitt schwang sie sich über das Geländer und sprang auf die Wiese.
So schnell sie konnte überquerte sie die Wäscheplätze, kletterte über den Zaun des Parks und verschwand im schützenden Dickicht.
Jake und sie waren unzählige Stunden durch den Wald hier gestrichen und hatten jeden Winkel erkundet. Bei einem der Streifzüge hatten sie entdeckt, dass bei einer der ältesten Eichen der Stamm durch einen Blitzschlag hohl war. Als sie die Borke beiseite gebogen und sich hinein gezwängt hatten, waren sie eingebrochen und hatten eine Höhle im Wurzelwerk des riesigen Baumes entdeckt.
Irgendwann war ihnen die Idee gekommen, dort ein Geheimversteck einzurichten und jenes durch Netze vor den anderen Bewohnern des Parks zu schützen. Sie hatten Decken und Proviant dorthin geschleppt, und einmal sogar dort übernachtet, was Cat am nächsten Morgen allerdings eine deftige Strafe von ihren Eltern eingebracht hatte.
Die Morgensonne bahnte sich den Weg durch das Blätterdach und zu Cats Freude waren nur sehr wenige Menschen im Park unterwegs, sodass sie ungesehen zu der Eiche und in die Höhle gelangte. Sie ordnete die Decken und setzte sich in den hintersten Winkel, von wo aus sie den Eingang gut im Blick hatte. Die Geräusche des Waldes drangen nur gedämpft herein.Müde lehnte sie sich an die Höhlenwand. Kurz darauf war sie eingeschlafen.

Jake holte Luft und verstummte. Er war erstaunt über sich selbst, dass er jemals diesem Mann alle diese Dinge an den Kopf geworfen hatte, aber noch erstaunter schien Mr. Mash zu sein. Caroline war noch bleicher geworden und schaute ihn flehend an.
  „Lass uns hinein, oder wir rufen die Polizei!“, William Mash konnte sich scheinbar nur mit Mühe beherrschen. Aber seine Stimme war nicht mehr so sicher, wie zu Beginn dieses „Gesprächs“. Er wollte gerade ansetzen, etwas zu sagen, als er sein Handy in der Hosentasche vibrieren spürte. Eine Sondernachricht. Die konnte nur von Cat sein, also musste sie es irgendwie geschafft haben, zu verschwinden. Er konnte nur mit Mühe ein Grinsen unterdrücken, also sagte er nur:
   „Sie ist nicht hier.“
   „Das glaube ich nur, wenn ich es sehe.“, brummte Mr. Mash.
   „Bitte, wir verschwinden dann gleich wieder.“ meldete sich nun auch dessen Frau zu Wort.
Jake seufzte theatralisch und schloss die Wohnungstür auf.
Während die beiden einige Schritte in die Wohnung hinein machten, zog er schnell sein Handy aus der Tasche und öffnete die Nachricht. Kurz nachdem er sie ein zweites Mal gelesen hatte, verschwand der Text von dem Display und mit ihm alle Hinweise darauf, wo Cat sich jetzt befand. Er lächelte selbstzufrieden, dann folgte er seinen „Besuchern“ in die Wohnung.

Nach einer viertel Stunde weiteren Suchens, wurde Mr. Mash immer unwirscher. Er hatte sich alle Räume zeigen lassen, einige Male gegen die Wände geklopft, um, wie er sagte, Hohlräume auszumachen und Jake sogar aufgefordert die Schränke zu öffnen. Als er ihn nun fragte, wie die Schlafcouch auseinander gebaut werden kann, wurde es Mrs. Mash zu viel. Sie packte ihren Mann am Arm und zerrte ihn in Richtung Flur, wobei sie zischte:
    „Es reicht jetzt! Sie ist nicht hier. Lass uns gehen, wir haben hier nichts mehr zu suchen.“
Dieser wollte protestieren, aber sie fuhr fort:
   „Wenn du so weiter machst, ruft er noch die Polizei wegen Hausfriedensbruch! Wir haben genug herum gestöbert. Das ist doch lächerlich. Vielleicht ist sie wieder Zuhause. Komm, wir müssen los! Entschuldige bitte die Störung, Jake. Wir machen uns nur so fürchterliche Sorgen um sie. Sie ist seit gestern Nachmittag verschwunden. Vielleicht müssen wir ihr Handy orten lassen... Bitte melde dich bei uns, wenn du etwas von ihr hörst!“, und damit hatte sie ihren Mann vor die Tür geschoben und sich selbst ebenfalls ins Treppenhaus gestellt.
Jake ging zur Tür, schaute sie an und war hilflos. Er konnte ihr unmöglich sagen, wo Cat war, aber ihre Sorge war echt und so sagte er nur:
   „Ich melde mich.“
Sie nickte dankbar und Jake schloss leise die Wohnungstür. Dann ließ er sich seufzend auf die Couch fallen. Das war wirklich knapp gewesen. Zum Glück hatte Cat so gut reagiert. Er selbst hatte ihr den Weg über die Feuerleiter gezeigt und mit ihr hunderte Male geübt, sich auf jedem Gelände lautlos zu bewegen. Und sie wusste auch, dass der letzte Treppenabschnitt laut quietschte. Zum Glück...
Er beschloss noch bis zum Mittag zu warten, bis er sich auf den Weg in den Wald machte. Er wusste, das Cats Vater nicht so schnell aufgeben würde. Also klingelte er kurz nach elf Uhr bei Mrs. Scart, einer liebenswürdigen Rentnerin und fragte sie, ob er sie und ihren Hund in den Park begleiten solle. Dankbar nahm die alte Dame an. Nachdem sie in der Abenddämmerung auf einem der Parkwege gestürzt war, war sie nur noch sehr schlecht zu Fuß und ging kaum noch ohne Begleitung dorthin.
Im Park angenommen ließen sie den Hund kurz von der Leine und nachdem Jake ihn ein paar Mal Stöckchen hatte holen lassen, begleitete er Mrs. Scart zu einer Parkbank und versprach ihr gleich wieder zu kommen.Außerhalb ihrer Sichtweite, rannte er so schnell er konnte zwischen den Bäumen hindurch zu der alten Eiche, hängte die sorgfältig versteckten Netze aus und zwängte sich in den Stamm hinein.

Cat erwachte davon, dass ihr etwas schweres auf die ausgestreckten Beine fiel. Erschrocken fuhr sie hoch und entdeckte zu ihren Füßen einen hellen Klumpen. Es musste kurz vor Mittag sein, denn die Lichtstrahlen, welche durch die Löcher im Stamm in die Höhle fielen, waren fast senkrecht. Sie setzte sich auf und griff nach dem Klumpen. Er entpuppte sich als Stein, um den ein Stück Papier gewickelt worden war. Eine Nachricht von Jake, dachte sie. Aber als sie das Papier abwickelte, um zu schauen, was darauf stand, wurde ihr klar, dass dieser Text unmöglich von Jake kommen konnte. Seltsame Runen übersäten das Papier. Sie konnte sie nicht lesen, aber die gekreuzten Linien kamen ihr irgendwie bekannt vor. Sie ging zum Eingang im Baustamm, um besser sehen zu können.
Plötzlich fielen ihr Holzstückchen und Erdklumpen auf den Kopf. Überrascht blickte sie auf und sprang gerade noch rechtzeitig zu Seite, als auch schon Jake federnd neben ihr landete. Sie blickte ihn zuerst erstaunt an, dann wieder auf das Papier und dann wieder ihn. Er schaute ihr in die Augen und versuchte herauszufinden, was sie dachte.
   „Hast du das herein geworfen?“, fragte sie schließlich.
Er schaute verdutzt auf das Papier in ihren Händen.
   „Nein... Ich bin gerade mit Mrs. Scart im Park, um keinen Verdacht zu erwecken.“
   „Aber woher kommt das dann? Das kann doch nicht einfach so herein fallen. Es weiß doch sonst keiner von dem Baum.“
Sie sah besorgt aus. Jake nahm das Papier und hielt es ins Licht, um zu erkennen, was darauf stand.
   „Komisch...“, meinte er nur.
Cat seufzte.
„Komm erstmal mit raus. Du bist ganz schmutzig. Wir können später schauen, woher das kommt.“
Mrs. Scart grinste schelmisch, als Jake versuchte, ihr zu erklären, er habe Cat durch Zufall im Wald getroffen, stellte aber keine Fragen. Gemeinsam kehrten sie zu dem Wohnkomplex zurück. Cat wusste, dass sie ziemlich schmutzig aussah, also beeilten sie sich, so gut es ging, um möglichst wenig Aufsehen zu erregen. Mrs. Scart sagte nichts weiter, aber sie sah Cat immer wieder amüsiert von der Seite an. Cat mochte die Frau. Sie hatte ihnen schon geholfen, als sie noch Kinder waren und wiedereinmal im Spiel die Rabatte vor dem Mietshaus zur Hälfte umgegraben hatten.
Im Haus angekommen verabschiedeten sie sich von der alten Dame und zogen sich in Jakes eigene Wohnung zurück.

Dort angekommen, ließ Cat sich erschöpft auf das Sofa fallen.
  „Ich lass dir ein Bad ein.“, meinte Jake und zog sich in das kleine Bad zurück. Kurz darauf hörte sie das Rauschen von Wasser. Als Jake die Tür wieder öffnete, zog ein warm-feuchter Dunst durch die Wohnung.
  „Ich hab dir ein Handtuch hingelegt. Wenn du noch mehr brauchst, dann ruf mich.“, er lächelte sie warm an.
Cat stemmte sich von dem Sofa hoch und war in diesem Moment so unglaublich glücklich, ihn zu haben. Mit einem gemurmelten „Danke!“ gab sie ihm einen Kuss auf die Wange und verschwand in der Schwüle des kleinen Raumes.
  Sie genoss das Wasser in vollen Zügen und als sie das Bad in ein großes Handtuch gewickelt verließ, hatte er bereits den Tisch gedeckt und stand in der Küche, wo er kleine Stückchen Fleisch anbriet. Cat stand einfach nur in der Tür und beobachtete ihn beim Kochen. Sie war so unbeschreiblich dankbar, bei ihm Zuflucht zu finden, dass ihr der Gedanke daran die Tränen in die Augen steigen ließ.
Was er wohl gerade dachte...?

  Jake fühlte sich leer. Nachdem er William Mash endlich hinausgeworfen und Cat aus ihrem Versteck geholt hatte, war er anfangs froh gewesen, dass die Sache so glimpflich ausgegangen war. Doch als sie wieder in der Wohnung waren, wusste er weder was er denken, noch was er fühlen sollte. Damit er nicht in trübsinnigen Gedanken versank, hatte er zunächst die Wohnung einwenig in Ordnung gebracht und dann das Abendessen vorbereitet. Mrs. Scart hatte ihm noch ein wenig frisches Fleisch mitgegeben und so hatte er genügend damit zu tun, es zuzubereiten.
  Er hatte keine Ahnung, wie lange sie dort gestanden hatte, denn als er sich kurz umdrehte stand sie, in ein Handtuch gewickelt mit einem eigenartigen Lächeln im Türrahmen und beobachtete ihn. Er spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. Ohne dass er es wollte, nahmen seine Augen Details wahr. Ihre von der Wärme geröteten Wangen, ihre noch nassen Haare, welche sie versucht hatte, in einen Haargummi zu zwängen, die glänzenden Wassertropfen auf ihren Schultern. All das prägte sich in Sekundenschnelle in seinem Kopf ein und die Stelle auf seiner Wange, wo sie ihn geküsst hatte, wurde ihm wieder bewusst.
Schließlich riss er sich zusammen und sagte:
  „Warte, ich hol dir erstmal ein paar Sachen von mir, dann können wir deine waschen.“


Damit drückte er sich an ihr vorbei und ging zu dem riesigen alten Kleiderschrank. Er suchte sein kleinstes T-Shirt und eine Jogginghose heraus und legte die Sachen auf den kleinen Schrank im Badezimmer.

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